Montag, 30. Oktober 2006

Sie lag auf dem Bett

Sie lag auf dem Bett, auf der Seite. Da waren zu viele Kissen in ihrem Bett, doch sie waren während des Schlafes bereits an die Wand gerückt worden. An der Wand lag ich. Es war Morgen.

Sie hatte die ganz Nacht nicht geschlafen, was ich ihr sowohl ansah, als auch daraus schloss, dass wann immer ich in der Nacht aufgeschreckt war, sie wach neben mir lag.
Am Abend zuvor waren wir gemeinsam in ein winziges Studententheater namens "Theaterlabor" gegangen, um uns "Geschlossene Gesellschaft" von Jean Paul Sartre anzusehen. Wir waren um kurz nach Zehn wieder in ihrer Wohnung gewesen und ich öffnete eine Rotweinfalsche mit Schraubverschluss, die ich extra kaufte da ich wusste das sie keinen Korkenzieher in ihrer Wohnung haben wird. Wir tranken beide nur ein Glas: Ihr schmeckte der 1,79 Euro teure Wein nicht und ich wollte nicht den Eindruck machen, als sei ich ein Mensch der nur mithilfe von Alkohol reden, nicht schüchtern und charmant sein kann. Bereits jetzt lag sie im Bett, allerdings nur da ich die einzig andere Sitzgelegenheit in ihrem Zimmer – ein Schreibtischstuhl von Ikea - belegt hatte. Wir redeten über das Stück und ich erzählte ihr etwas über den Existenzialismus von Camus und Sartre. Wir hielten uns lange mit dem Satz "Die Hölle, das sind die anderen" auf. Wie dem auch sei, das Gespräch endete damit das sie sagte sie wache oft mitten in der Nacht auf und stellte fest das sie schreckliche Beklemmungen in ihrer Seele habe, ihr das Leben schrecklich schwer falle und sie das Verlangen hätte zu sterben. Sie werde niemals glücklich werden und auch ich könne sie nie wirklich erfüllen, oder heilen. Ablenkung - das sei alles was ich erreichen würde, was ich sein würde. Ich dachte: An der Stelle an der für die meisten Menschen das Glück steht, steht für sie die Ablenkung, und das Glück für nicht einen Menschen etwas anderes als Ablenkung ist. Der Unterschied bei ihr ist lediglich der Charakter des Bewussten. Sie weiß dass wenn sie nicht depressiv ist, sie lediglich von ihrer Krankheit abgelenkt ist, welche allerdings immer wieder, ihr Leben lang zurückkommen wird, sie wieder in Schatten sperren wird, dann oder wann. Ein Mensch der glücklich verliebt ist, ist auch nicht mehr als abgelenkt, nämlich durch Ausschüttungen seines Körpers, indirekt durch die Person die er liebt, oder meint zu lieben. Glück ist demnach immer Ablenkung, auf welche Art und Weise auch immer. Das sah sie ein und ich glaube der Umstand das ich mit der Tatsache das ich sie niemals wirklich glücklich machen werden kann so gut umgehen konnte – sie schien auch schon andere Erfahrungen gemacht zu haben -, gefiel ihr. Sie sah in mir Etwas, denn ihre Augen glänzten. Was in der Nacht geschah, war schön, nein, nicht wirklich schön, es war schöne Ablenkung für sie und was weiß ich für mich.

Jedenfalls kam der nächste Morgen und sie lag da, wie bereits beschrieben. Sie war bis zum Halse zugedeckt. Sie hatte die wirkliche Bettdecke erobert – was wohl nicht schwer war, da ich ja die meiste Zeit schlief und sie wach war, alles was sie tun musste war auf den richtigen Zeitpunkt warten – und ich war in die blau geblümte Tagesdecke gehüllt. Selbstverständlich ebenfalls Ikea. Als ich des Morgens wach wurde sah sie mich auf der Seite liegend an, mit ihren riesigen, noch geschminkten Tiefseeaugen. Es war währenddessen ein Kampf im Gange, zwischen mir und meinen nicht akkomodieren-wollenden Augen, und schon formten meine Lippen ein fragendes „Hmmm?“. Da ich keine Antwort erhielt wiederholte ich meine schon indirekt gestellte Frage, mit den Worten „Was ist los?“, beiläufig etwas direkter. „Nichts“, das war alles. Nichts? Es war offensichtlich dass sie irgendein Gedanke quälte. So etwas kann man an dem Verhältnis des Grads der Nicht-Verschwommenheit der Augen und der Haltung des Mundes ablesen, man muss es nur wissen. Und in diesem Moment konnte ich zwar die Bäume die vor dem Fenster im Winde wehten nicht wirklich durchgängig fokussieren, doch ich wusste das sie verzweifelt über etwas nachsann. Schließlich lag Sie neben mir, in demselben Zimmer, ganz im Gegensatz zu den Bäumen. Nichts? Sie wollte es mir nicht sagen und ich dachte es läge vielleicht daran das sie denken würde ich verstände sie so oder so nicht, da ich nicht an ihrer Krankheit leide und bis zu einem gewissen Grad hatte sie sogar Recht. Und verdammt noch mal wir schwiegen uns geschlagene 90 Minuten lang an. Anfangs schaute ich abwechselnd zu ihr und aus dem Fenster und konzentrierte mich auf den Kampf mit meinen Augen. Ich hatte irgendwann – wie vorauszusehen war – gewonnen. Also schaute ich abwechselnd zu ihr und durch ihr Zimmer, das im Übrigen dunkelrot gestrichen war. Als nächstes drehte ich mich zur Wand, da meine Augen zwischenzeitlich immer noch verschwommen zu sehen pflegten. Da niemand jemals wissen wird wie sein eigener Blick aussieht wenn er verschwommen sieht, da man zu diesen Zeitpunkten ja eben verschwommen sieht, empfand ich es als angenehmer die Wand anzustarren, um zu verhindern, dass sie erkennt, dass ich noch nicht vollkommen wach war. Nach einiger Zeit drehte ich mich wieder zu ihr – der Kampf war, das war nun sicher, endgültig beendet – und sah, dass ihre Augen wieder glänzten. Vielleicht gefiel ihr ja mein lakonisches Verhalten, mein Schweigen, mein Nicht-Weiter-Nachfragen. Mich hingegen begeisterte das sie mich in keinem Moment anzuschauen aufgehört hatte. Hartnäckig war sie und ausdauernd. Ich hatte bereits die Wand, den Rest des Zimmers, den Ausblick des Fensters und Sie beobachtet, also blieb mir nur noch die Decke über den Kopf zu ziehen. Damit hielt ich mich wiederum einige Minuten auf und als ich wieder auftauchte, sah ich das der zuvor bereits bemerkte Glanz ihrer Augen keine Bewunderung meiner Person war – wie konnte ich nur? – sondern das erste Anzeichen langsam hervortretender Tränen.

Der neue Abschnitt ist an dieser Stelle, da ich selten etwas so ehrliches gesehen habe, vielleicht sogar noch nie. Demnach nicht mehr als Betonung, oder sonst was: Da sie auf der Seite lag, fielen ihre Tränen nicht wie üblich über die Wangen hinunter zur Ecke des Kieferknochens von wo aus sie meist auf den Boden hinuntertropfen. Die erste Träne bahnte sich ihren Weg über die Nase, die eine Rampe zu bilden schien, und machte an der äußersten Spitze der Nase halt. Dort schien sie beinahe verendet, doch weinte die Dame natürlich nicht nur eine Träne, sondern, so empfand ich es, das gesamte Glas Rotwein des vorherigen Abends. Also nahm die nächste Träne denselben Weg, da dieser ja einem Trampelpfad ähnelnd bereits vorbereitet war, ja sozusagen eine Autobahn für Tränen darstellte. Mehr und mehr Flüssigkeit sammelte sich an der Nasenspitze, bis sich wiederum ein Tropfen entwickelte, welcher vom Sammelpunkt aus auf die Wange tropfte, von wo aus er, die Fallgeschwindigkeit geschickt nutzend, auf das Kissen hinunterraste. Dieser gesamte Vorgang wiederholte sich dutzende Male, und das mit einer leicht angeschwärzten Tränenflüssigkeit. Ich müsste vielleicht noch hinzufügen das sich dieses Schauspiel nur an einem Auge vollzog, da das andere ja aufgrund der seitlichen Lage schon beinahe das Kissen berührte, die Tränen also nur noch ein winziges Stückchen zurückzulegen hatten. Innerhalb der ersten Sekunden, also in der Zeit in der ich feststellte das sie weinte, fragte ich mich ob ich noch einmal fragen sollte was denn los sei, sie einfach in den Arm hätte nehmen sollen, ihr die Tränen von der Wange hätte küssen müssen, sie am Abschusspunkt der Tränenballiste hätte aufschlürfen sollen. Doch ich entschied mich zu schweigen, sie starr anzusehen und zu warten. Ich wollte diesen Kampf nicht verlieren, wollte ihr zeigen dass ihre Tränen nichts Besonderes und erst recht kein Druckmittel sind. Nach wie gesagt 90 Minuten brach sie das, ein gefühltes Leben lang hatte andauernde, Schweigen.

Es täte ihr leid, aber was denn, das sie nicht mit mir reden könne und ich verstünde doch so oder so nicht, ich müsse doch aber auch nicht alles verstehen und sie verstehe mich doch ebenso wenig, niemand verstünde den anderen jemals wirklich, das sei etwas anderes, nein, das sei es nicht, doch; nein, es sei ihr nur im Gegensatz zu den Anderen bewusst, genau wie ihr die Nichtigkeit des Glückes bewusst sei, mehr nicht, nichts anderes sei es. Und sie weinte weiter.

Irgendwann einmal kannte ich einen Menschen der mir enorm wichtig war, mir die reinste aller Ablenkungen war, mich sogar davon ablenkte mich davon ablenken zu müssen zu vergessen das jedes Wohlfühlen nur Ablenkung ist. Somit wirklich Ablenkung in Reinform, ein Heiligtum. Irgendwann einmal hörte ich den Satz: „Manchmal denke ich, ich müsste einen Menschen für dich suchen den du genauso lieb haben kannst wie mich, damit ich endlich gehen kann.“ Irgendwann einmal sagte ich einem herrlichen Menschen es würde zwischen uns keinen Sinn mehr machen, nur um als Antwort „ich will nicht mehr“ zu hören und zu sehen wie ein Mensch dem Wunsch sich aus dem Fenster zu stürzen nachzugehen versucht. Versucht. Irgendwann einmal hatte ich bei einem damalig guten Freund übernachtet, kam nach Hause und fand eine beinahe leere Packung Schlaftabletten im Bad, nur um einige Stunden später zu erfahren, eine existenzielle Person läge im Krankenhaus. Versucht. Irgendwann einmal versank ich förmlich in Sehnsucht und Unzufriedenheit, badete in Melancholie und Kerzenschein, machte mir bewusst was passieren kann und wird, sah Notwendiges ein. Was in Gottes Namen war die beste Zeit meines Lebens? Für mich eindeutig letzteres.

Es bleibt dabei: Glück ist so irrsinnig nichtig


Nachtrag: Es schwirrte während des Schreibens ununterbrochen in mir herum, aber ich wusste und weiß nicht wohin damit. Daher einfach mithilfe eines Nachtrages. Also: „Depression – die Krankheit eines allzu bewussten Lebens“

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