Samstag, 23. Dezember 2006

Blonde Dame

Ein Raum war dicht gefüllt mit Menschen. Alle vier Wände des kleinen Cafés waren verglast. An jeder Wand jeweils acht halbgroße Fenster, nur wenige waren geöffnet, doch es herrschte allgemeines Rauchverbot und die Luft war, den Verhältnissen entsprechend, in Ordnung. Es fanden zwölf unterschiedlich große Tische in dem ca. vierzig Quadratmeter kleinen Raum Platz. Neben Tischen, Fenstern, Gästen und Kellnern waren eine Theke in der rechten Ecke des Cafés und Stühle im gesamten Raume verteilt: Grob geschätzt dreißig Sitzgelegenheiten die beinahe komplett besetzt waren.
Die verschiedenen Parteien die das dutzend Tische umringten, waren nicht allzu unterschiedlich, was an der Reputation des Ladens lag, welcher zumeist ein bestimmtes, sozusagen ausgewähltes Aussehen von Menschen herausfilterte und anzog. Faktoren waren die Preise der Produkte und der äußere Eindruck: Fliesen, die Gestaltung der Decke und sich auf den Tischen befindliches Accessoire: Kerzen und wiederum bewusst filternde Zeitschriften. Nur wenige Fremdkörper in Form von Gästen schienen sich in dieser Komposition verirrt zu haben. Sie fielen heraus und hatten in einer Ecke des Raumes Platz genommen, in der sie sich von den anderen Gästen abgesondert hatten und eine Art Geschwulst bildeten die eitrig zu platzen drohte. Ihre Kleidung war auf den ersten Blick billiger und auf den zweiten weniger abgestimmt als die der Anderen. Die bevorzugten Farben von Oberteilen und Kopfbedeckungen stimmten nicht in dem Maße mit den schwarz-weiß karierten Fliesen überein, wie es die Oberteile und Kopfbedeckungen aller anderen Gäste taten. Sie tranken dieselben Getränke, was jedoch ausschließlich auf die eingeschränkte Auswahl der Karte zurückzuführen war.
Durch die ebenfalls verglaste Eingangstür trat eine junge Dame ein. Sie schien dieses Café regelmäßig zu besuchen, da sie von fünf bis sechs Bekannten und von einem Kellner begrüßt wurde. Blonde offene Haare fielen leicht über Schultern und Stirn. Kleine Augen die durch die gerade von der Stirn hinunterfallenden Haare noch kleiner und beinahe nicht mehr erkennbar wirkten. Doch machte dieser Zug etwas immens Feines und Zartes her. Ein kindlicher Glanz strahlte aus den auffällig unauffälligen Augen. Auf diese Art und Weise glich ihr Gesicht einem auf unsicheren Füssen stehenden Gebilde, vielleicht einem Kartenhaus, schön anzusehen – ja erst aufgrund seiner gefährdeten Statik zu etwas Schönem werdend – jedoch die Gefahr bergend durch einen einzigen Windstoss auseinander gerissen zu werden. Schon ein Seitenscheitel hätte alles Bewundernswerte aus ihrer Miene geraubt. Wie hätte erst eine größere Nase sie entstellt? Doch so wie es nun einmal war, passte sich die reine Komposition ihres Antlitzes ideal der technisch einwandfreien Komposition des Raumes an. Nachdem Freunde und/oder Bekannte begrüßt waren, setzte sie sich an einen eigentlich bereits gedrängten Tisch. Gegenüber des Geschwulstes. Wäre der Raum leerer und die Sicht auf den gegenüberliegenden Tisch gegeben gewesen, hätte sie niemals auf diesem Stuhl Platz genommen, die Augen direkt auf den schäbigen Fleck dieses Porträts gerichtet. Doch sie wurde nicht gewarnt und so oder so war der Raum gefüllt und der Blick auf den Eiterklecks nicht gegeben. Nur gelegentlich. Selten. Sie dachte: „Diese Leute sind mir widerlich und ich möchte das sie verschwinden.“
Durch die Tür trat ein weiterer Besucher ein. Dieser wiederum machte sich gut auf diesem Bilde. Nahtlos verschmolz er und die frisch aufgetragene Ölfarbe trocknete blitzschnell, denn schon nach wenigen Sekunden fiel niemandem mehr störend glänzende Feuchtigkeit auf. Dem ersten Eindruck nach zu urteilen hatte wohl jeder Halbstammgast erwartet der Eingetretene sei wohl bekannt und es sei nichts weiter als ein Zufall, das man ihm noch nie begegnet sei, oder er einem noch nie aufgefallen war. Denn er war hübsch und wäre er eingebildet, man verzöge es ihm augenblicklich. In diesem Falle hätte man nicht einmal von Arroganz reden dürfen, denn bezeichnete er sich als schöner als die meisten anderen, wäre dies einzig und allein zutreffend gewesen. Völlig objektiv. Wie auch immer der werte Leser Attraktivität definieren mag, dieser Eingetretene erfüllte Ihre Kriterien individuell.
Es ging ein Raunen durch den Raum, denn die Gäste mit Blick auf die Eingangstür hatten die Kunde des hübschen Eingetretenen weitergegeben und nicht wenige drehten sich hieraufhin um, um sich ihr eigenes Bild innerhalb dieses Bildes zu machen. Die gefilterte, gewissermaßen artgemäße Menge war sich einig und ein Beschluss stand fest: Er ist willkommen, ja sogar mehr als das.
Er bestellte einen Tee an der Theke, wartete bis sein Getränk bereit war, nahm es in die Hand und bewegte sich festen Schrittes Richtung Eitergeschwulst. Auch er begrüßte und nahm Platz. Aus dem vorhergegangenen Raunen wurde eine stille Heimlichkeit, ein nur noch dumpfes Geräusch das Empörung auszudrücken schien darüber, dass der hübsche Eingetretene tatsächlich ein Teil des Tumors sein sollte. Der Großteil der Gäste begann nun seine Schönheit und die anfängliche Überraschtheit herunterzuspielen. Jedoch die blonde Dame kämpfte. Verwirrung machte sich breit, ein Wirrsal zwischen prinzipientreuer und erschütterter, erregter Bewegung. Er saß eindeutig am falschen Tische, doch der erste Eindruck war geblieben, seinem Auftreten war nichts Negatives abzugewinnen, außer der Tatsache das er am falschen Tische saß.
Sein Stuhl stand dem der blonden Dame gegenüber, sein Gesicht schaute demnach ebenfalls gen Madame. Ihr fiel es schwer ihn zu beobachten, um Fehler in seinem Verhalten - Grobheiten oder Liiertheit - festzustellen, da sie wie bereits erwähnt nur selten einen Blick auf ihn erhaschen konnte. Der erste Blick war beruhigend, sein Benehmen tadellos und seine Gestik in Ordnung. Der zweite Blick war ergreifend, denn der Ausdruck seines Gesichts trug Pathos, was ihrerseits zu der Annahme führte, er fühle sich unwohl in dieser eitrigen Gesellschaft. Selbstverständlich ein Irrglaube, da es sich um nahe stehende Freunde handelte. Der dritte Blick wurde seinerseits erwidert und beantwortete gleichermaßen ihre Frage auf vermeintliches Interesse seiner Person ihr gegenüber. Abermalig wiederholte sich dieser Vorgang, jedoch war sich die Dame nicht sicher ob sie sich freuen, oder traurig über die Gesellschaft des Herrn sein sollte, da sie sich ein Zusammensein mit diesen Menschen nicht vorstellen konnte. Ganz im Gegenteil gefiel ihr die Vorstellung des Zusammenseins mit ihm. Einige wenige Male lächelten sie sich sogar gegenseitig an. Ein solider, feststehender Tatbestand, unweigerlich.
Worüber an ihrem Tische gesprochen wurde wusste er ebenso wenig, wie sie wusste was das Gesprächsthema seines Tisches war, jedenfalls äußerten einige Freunde der Dame die Absicht, den Laden zu verlassen und irgendetwas anderes zu tun. Sie standen auf und verließen den verglasten Raum.

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