Montag, 12. Februar 2007

Ich weiß es nicht

Die Decke war vertäfelt. Viele dunkle schmale Holzbretter lagen nebeneinander, eines überdeckte ein anderes, das Nächste wurde von dem Vorhergehenden bedeckt. Anhand dieses Schemas wurde die gesamte Decke verhüllt und der gesamte Raum erhielt etwas Mysteriöses. „Warum hält man es für nötig sich eine solche Arbeit zu machen? Mich interessierte welche Oberfläche zum Vorschein käme, schaute man hinter diese hölzerne Hülle“, fragte sich die Dame während sie darauf wartete, dass ihr Begleiter mit den Getränken wiederkehren würde. Sie starrte den Tisch an, an dem sie saß und die klebrigen kreisrunden Flecken die die Gläser anderer Menschen verursacht hatten. Sie strich mit Mittel- und Zeigefinger hinüber. Zuerst sich herantastend und förmlich spähend, später mit sicherer Bestimmung und Kreise ziehend. Bilder stiegen empor, daran wie sie vor einigen Jahren eine Tasse Kaffee auf ihrem Zimmer hatte stehen lassen, sie erst nach Tagen, vielleicht erst nach einer Woche in die Küche getragen und gespült hatte, um, in ihr Zimmer zurückkehrend, einen ähnlichen, bloß kreisrunden Fleck zu bemerken und zu denken: „Hätte ich sie stehen lassen wäre dieser Klecks vielleicht niemals entstanden.“ Nun machte dieser Fleck, auf diesem Tisch in diesem Laden allerdings Sinn, denn sie strich doch seit einigen Sekunden darüber und vertrieb sich die Zeit auf eine harmlose Art und Weise. „Mit dem Kaffe war es vielleicht ähnlich“, dachte sie. Sie hatte den Plan gefasst ihr eigenes Glas exakt auf diesen Kreis zu platzieren, demnach hoffte sie zur gleichen Zeit der Umfang ihres Glases werde derselbe sein, denn andernfalls wäre ihr Plan zunichte gemacht. „Wird er es bemerken? Wahrscheinlich nicht, jedoch gegebenenfalls er bemerke es wirklich nicht, wäre es möglich es falle ihm erst dann auf, wenn ich es zum Trinken wieder anhebte. Er wird denken ich habe diesen Fleck zu verschulden und ich hätte bereits etwas verschüttet. Eventuell erzähle ich ihm von meinem Plan.“
Er trat mit zwei Getränken in den Händen an den Tisch zurück. Sein Blick besaß ein gesund ausgewogenes Maß zwischen Gleichgültigkeit und zärtlicher Aufmerksamkeit. Er stellte die Gläser auf den Tisch: Sie sah erst spät vom Tisch auf, hatte ihn daher erst kurz vor dem Erreichen des Tisches erblickt, was sie überraschte und gewissermaßen verwirrte. Denn ihr Plan war es, ihr Glas mithilfe ihrer Hände in Empfang zu nehmen, um es, wie sie es sich gewünscht hatte, unbemerkt auf den klebrigen Kreisabdruck vor sich zu stellen. Nun musste sie umdenken, um es entweder nach dem ersten Nippen oder schon vorher durch langsames Verschieben auf den ersehnten Platz zu manövrieren. Sie entschied sich zaghaft zu kosten und nach Abschluss dieses Vorganges das Glas an dem angestrebten Standort zu hinterlassen. Er war nichts ahnend und ebenso wenig bemerkte er irgendetwas. Sie allerdings bereute ihr Vorgehen schon nach kürzester Zeit: „Es ging zu schnell. Dabei wollte ich doch von meinem Vorhaben erzählen.“ Nun lebte sie in beständiger Angst, da sie nicht wusste was und wie viel ihr Begleiter bemerkt hatte, was er darüber denken würde und wie sie antworten solle, fragte er nach dem Fleck und dem abermaligen Platzieren auf exakt diesem Platz. Nichts von alldem war ihrem Begleiter tatsächlich aufgefallen und selbst wenn, es hätte ihm lediglich zugesagt, da er vor wenigen Wochen erst mit einem befreundeten Verwandten darüber redete, wie sehr er es hasse wenn Kellner benutzte Tische gleich nach dem Verlassen des Raumes säuberten, da er sich bei einem solchen sterilen Verhalten eher in einer Arztpraxis, als in einem Cafe fühle und es ihn beinahe anekle, zu sehen wie ein in Spülmittel getränkter Lappen die Oberfläche einweicht, auf welcher sein Getränk in wenigen Minuten stehen werde. Getränke- und Speisereste auf dem Tisch zu hinterlassen, erschien ihm hygienischer zu sein als chemische Säuberungsmittel zuerst auf der Tischplatte vorzufinden, dann an den Fingern und schließlich durch ein Missgeschick möglicherweise im Mund. Jedenfalls ist aus diesem Gespräch unweigerlich zu schließen, dass ihm das Wertschätzen solcher Getränkereste sympathischer gewesen wäre, als eine Beschwerde über dieselben.
Die allgemeine Lautstärke des Raumes - die vielen Menschen die sich aus ihren Heimen aufmachten, um zu reden und Fremde durch Gespräche kennen zu lernen, nahmen aufeinander nicht Rücksicht und so peitschte eine Gruppe eine andere auf, die begleitende Musik gab ebenso ihren Beitrag hinzu – diente den beiden als Anonymität bietendes Gewand, dass schwarz über ihnen hing, sie gemeinsam einkleidete, von den anderen separierte und ihnen gewissermaßen Raum gab. Diese beiden jedoch wurden in Anbetracht dessen eher verlegen, als das sie ihre Ungestörtheit für ein ehrlich persönliches Gespräch nutzten, denn ihre so entstandene Einsamkeit entsprach nicht dem, was beide sich erhofft hatten, nämlich in Gesellschaft zu sein. So unterhielten sie sich zwar angeregt, dachten währenddessen jedoch trotzdem in eigenen Welten, an eigene Erinnerungen. Nach etwa einer halben Stunde auf ihren Plätzen, äußerte Madame sie müsse die Toilette aufsuchen. Sie verließ den Tisch ohne zu wissen in welche Richtung sie sich zu bewegen hatte, denn bei dem Eintreten in diese Räume hatte sie wieder vergessen darauf zu achten wo sie zu späterer Stunde ein dementsprechendes Örtchen finden könnte. Nicht zum ersten Mal machte sie sich Vorhaltungen und schwor sich denselben Fehler nie wieder zu begehen. Selbstverständlich war ihr klar das es sich nicht um ein weit reichendes und schwerwiegendes Problem handelte, und das diese von ihr so titulierte ‚Nachlässigkeit’, von der Mehrzahl der Besucher solcher Bars eher als ‚Neurose’ oder ‚ein übertriebenes Gefühl von Unsicherheit an fremden Orten’ bezeichnet worden wäre, doch sah sie ebenso wenig ein, warum das Ausschau-Halten nach einer Toilette bei erstmaligen Betreten einer Bar etwas Verurteilenswertes sein sollte. An diesem Abend hatte sie also das Ausspähen des Raumes während des Eintretens vergessen, weshalb sie nun für alle anderen Besucher ersichtlich etwas hilflos aussah, zudem ihre Auffassungsgabe bereits durch den Alkohol getrübt war, denn „sie vertrug nicht viel“. Selbstverständlich fand sie eine Toilette, entleerte ihre Blase, wusch sich ordnungsgemäß die Hände und begab sich irgendwann auf den Rückweg zu ihrem Tisch, an welchem sie unerwartet eine fremde Person sitzen sah: Es handelte sich um eine weibliche Person mit unscheinbarem Äußeren, ohne das man von unattraktiv hätte reden können, schließlich trugen ihre verwaschenen Kleider und der allgemein verrauchte und daher neblige Zustand des Raumes, eher zu diesem ‚unscheinbaren Äußeren’ bei, als es ihr eigentlich hübsches Gesicht tat. Jung sah sie aus und unverbrauchter, als die dem Leser bereits bekannte Dame, doch bedeutete weder dieses ‚jung’ noch jenes indirekte ‚verbraucht’ irgendeine Wertung, da dieses ‚jung’ einem ‚kindlich’ verdächtig nahe kam und jenes ‚verbraucht’ einer anziehenden Reife glich. „Irgendeine Bekanntschaft“, dachte Madame und versuchte ihrem Gesicht den überraschten und unvorbereiteten Ausdruck durch ein beiläufiges und gleichzeitig fragendes „Hallo“ zu nehmen. Der Herr stellte den Damen die jeweils andere vor und fing erst jetzt an zu überlegen, wie er beiden das rechte Maß an Aufmerksamkeit zukommen lassen sollte, ohne der einen oder der anderen vor den Kopf zu stoßen, wobei hätte er sich entscheiden müssen sozusagen einer von beiden bewusst vor den Kopf zu stoßen, beide Damen gleichviel Gewicht besäßen, ihm die Verletzung der einen ebensoviel oder wenig bedeutete, wie der Verletzung der anderen. Man mag an dieser Stelle denken: „Aber dann bedarf es doch der Überlegung, wie beiden Damen das rechte Maß an Aufmerksamkeit zukommen zu lassen war, nicht.“ Natürlich war diese Frage seinerseits berechtigt, denn es handelte sich bei seiner Überlegung um Schadensbegrenzung, oder um bei einem mehr humanen Ton zu bleiben, um Diplomatie.

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